Vergesst
das Allgäu
(nicht)!

Winter Semester 19 / 20
Städtebauentwurfsstudio
ECTS 22,5 (12,5 + 5 + 5)

Prof. Fabienne Hoelzel, Prof. Uli Cluss, LBA Dirk Meiser, AM Ute Vees

Architekturforum Allgäu, Kempten

BUND Naturschutz in Bayern e.V., München

Fachgruppe Design (Kommunikationsdesign)

Dietmannsried bis Fischen (Allgäu)

Studiotage mit Anwesenheitspflicht: Dienstag und Mittwoch, 9 Uhr bis 18 Uhr

Einführung:
Dienstag, 15.10.2019, 15 Uhr, Raum 208

Schlusskritik:
Dienstag, 11.02.2019, 14 Uhr

Feldarbeit und Recherche vor Ort (oberes Allgäu): 04.-09.11.2020

Bei Ute Vees, ute.vees@abk-stuttgart.de, bis Freitag, 11.10.2019

Das obere Allgäu, südlich von Kempten gelegen, war traditionell eine arme Gegend, gilt verhältnismäßig als strukturschwach und betreibt bis zum heutigen Tag in erster Linie Gründlandbewirtschaftung (Milchwirtschaft). Die Landschaft der Voralpen ist weniger spektakulär oder dramatisch als das alpine Hochgebirge weiter südlich in der Schweiz oder in Österreich, die Moorlandschaft ist landschaftlich dennoch sehr attraktiv und romantische Projektionsfläche der berühmten, sanft gewellten bäuerlichen Kulturlandschaft. Der Massen-, Tages- und Wochenendtourismus, teilweise aggressiv vermarktet und vorangetrieben, ist ein weiterer wichtiger Einkommenszweig. Aufgrund des Klimawandels gewinnt der Sommertourismus immer mehr an Bedeutung. Insbesondere die Bevölkerung im Großraum Stuttgart nutzt und schätzt das Allgäu als Erholungs-, Freizeit- und Ferienort. Das Allgäu ist traditionell im Maschinenbau stark vertreten, der Automobilzulieferer Bosch etwa unterhält im oberen Allgäu seit vielen Jahrzehnten bedeutende Standorte. In Immenstadt und Blaichach fertigt die Bosch-Gruppe Hightech-Systeme für die aktive Fahrsicherheit wie ABS, ASR und ESP. Diese und andere Arbeitgeberinnen führen auch zum Zuzug hochqualifizierter und internationaler Arbeitnehmerinnen.

Obwohl das Allgäu politisch zu Bayern gehört, gibt es in mentaler und sprachlicher Hinsicht Gemeinsamkeiten mit Baden-Württemberg, so wird die Region zu dem territorial diffusen Begriff Schwaben gezählt. Fehlende, nicht-übergeordnete städtebauliche Konzepte respektive, die alleinige Planungshoheit der Kommunen führen zu einer Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung, vor allem entlang der ausgebauten B19 und bis vor die Tore der deutschen Tourismus- und Sporteventhochburg Oberstdorf, die getrost auch als das räumliche Abbild einer selbstverständlich gelebten gesellschaftspolitischen Realität bezeichnet werden kann. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von polyzentral vernetzten Funktionsräumen, d.h. es ist falsch, von einer unerwünschten Entwicklung zu reden, denn letztere ist das Resultat eines sowohl von Einheimischen als auch Touristinnen gelebten, also mit einer gewissen Absicht herbeigeführten, Realität. Das „Ergebnis“, die entsprechend produzierten Siedlungs-und Infrastrukturräume werden denn auch vor allem auf einer architektonischen-städtebaulichen Ebene kritisiert, nicht aber auf einer politischen oder gesellschaftlichen Ebene. Es besteht also eine bedeutende Lücke zwischen dem (eigenen) Handeln und der Wahrnehmung der Auswirkungen dieses Tuns. Oder um es mit den Überlegungen des französischen marxistischen Soziologen und Philosophen Henri Lefebvre (1901-1991) zu formulieren: Es gibt keinen Raum vor der Praxis; der Raum an sich, als universelle Kategorie, existiert nicht. Raum wird produziert, wobei Produktion bei Lefebvre immer ein gesellschaftlicher und kollektiver Prozess ist. Entsprechend ginge es darum, den Raum als soziales Produkt zu analysieren.

Das Untersuchungsgebiet steht für ein, in Deutschland und andernorts, vorherrschendes Phänomen der sogenannten Zersiedlung (populärer Begriff; eher negativ konnotiert) oder Suburbanisierung (wissenschaftlicher Begriff; eher beschreibend). Damit ist die Ausdehnung von Siedlungsgebieten und Infrastrukturbauten abseits der großen Ballungszentren wie etwa Stuttgart, Ulm, Augsburg, München, Kempten und Kaufbeuren gemeint so-wie die zunehmende Besiedelung ehemals landwirtschaftlich genutzter Landstriche. Während Theoretikerinnen und Forscher die voranschreitende Suburbanisierung infolge der von uns allen gelebten gesellschaftlichen Realität beschreiben, finden sich in der Planung in jüngerer Zeit regionale und überregionale Entwicklungsstrategien, die versuchen, Prozesse übergeordnet, d.h. überkommunal und somit regional, zu steuern. Schaut man sich diese, häufig noch immer als „ländlich“ beschriebenen, Gebiete näher an, wird deutlich, dass die Frage der Umsetzung solcher übergeordneter Ziele in der kommunalen, dezentralen Planung, also da, wo faktisch die Planungshoheit liegt, noch nicht oder unzureichend angekommen ist. Die Gründe hierfür sind meistens politischer Natur, zu verlockend ist das Ausweisen von neuem Bauland für Wohn- oder Gewerbezwecke um etwa zusätzliche Steuereinnahmen zu generieren. Andere Gründe sind der steigende Wohnraumbedarf aufgrund des steigenden Wohlstands sowie der Ausbau der Infrastrukturen und neuerdings die E-Mobilität, die es erlauben, immer längere Distanzen in immer kürzerer Zeit zurückzulegen.

Der Siedlungsraum zwischen Dietmannsried und Fischen (Allgäu) steht also beispielhaft für eine vom Menschen geprägte Landschaft respektive, ein „komplett durchsiedeltes Territorium“ , das aus morphologischer und typologischer Sichtweise ein Nebeneinander von verschiedenen „Systemen“, etwa Infrastruktur, Kultur und Siedlung, beschreibt. Dem Resultat, das „Nichtaustragen“ von Nutzungskonflikten respektive, das Ergebnis eines unterkomplexen Planungsverständnisses, sollen ein komplexes Verständnis von landschafts-urbanem Raum und den damit einhergehenden, neu zu entwickelnden Planungsinstrumenten gegenübergestellt werden – das ist Ziel und Zweck dieses Städtebauentwurfsstudios. Für die genannte Region wollen wir neue Ansätze finden, wie etwa überregionale Zielsetzungen und Handlungsfelder, um dann auf regionaler und lokaler Ebene Umsetzungen zu entwerfen, die in der Folge als Gesamtsystem wirksam werden können.

Die Ergebnisse werden entweder in Buch- oder Ausstellungsform einer breiteren Öffentlichkeit vor Ort zur Diskussion vorgestellt.

Die Teilnahme an der Exkursion in der KW 45 ist integraler Bestandteil des Städtebauentwurfsstudios und hat den Arbeitsumfang eines Stadtforschungsseminars (5 ECTS).